Seit einem Jahr und zwei Wochen leben wir nun schon hier in Jerusalem!
Es war ein intensives Jahr mit so viel Neuem und Fremden, Schönem und Wunderbarem aber auch Unverständlichem und Erschreckendem.
Viele Eindrücke und Begebenheiten haben wir nicht alleine erlebt: in diesem ersten Jahr hier hatten wir Besuch von 23 lieben Menschen aus Deutschland und in den nächsten Monaten werden noch zahlreiche Besuche von Freunden und Familie folgen – das ist schön!
Gerade unsere Erlebnisse der letzten drei Wochen spiegeln das oben Gesagte gut wider:
Eine Woche nach unserem Urlaub, genau heute vor drei Wochen, gingen Carsten und ich gutgelaunt abends zu Fuß in die City, um an der Pride Parade der Schwulen und Lesben teilzunehmen bzw. sie uns anzuschauen. Carsten hatte, wie meist, seinen Fotoapparat dabei.
Die Demo begann fröhlich und ausgelassenen in einem Park; wir liefen an der Seite mit und bestaunten (mal wieder), wie dicht in Jerusalem das streng Religiöse neben dem Bunten und Weltoffenem -hier dieser Parade- liegt.
Und dann geschah das Entsetzliche direkt vor unseren Augen: 50 Meter von uns entfernt rannte plötzlich ein ultraorthodoxer Jude in die Menge und stach willkürlich mit einem Messer auf die Menschen ein. Von den sechs schwer Verletzten starb das sechzehnjährige Mädchen auf dem Foto zwei Tage später im Krankenhaus. Es war furchtbar und für mich die erste Situation, in der ich Auswirkungen eines religiösen Fanatismus so nah erlebte.
Wenige Tage davor filmten Carsten und sein Kameramann die Wiederbesetzung einer ehemaligen Siedlung durch Juden im Westjordanland. Sie erlebten auf erschreckende Weise, was Fanatismus mit Menschen macht: Nachdem die Siedler herausgefunden hatten, dass der Kameramann Palestinenser ist, bedrohten und beschimpften sie die beiden unter anderem mit den Worten, alle Araber seien Mörder. Hier ein paar Eindrücke dazu:
Die mit Abstand schlimmste und grausamste Nachricht kam dann aber direkt in der Nacht nach der Pride Parade. In Duma, einem Dorf im Westjordanland, warfen mutmaßliche jüdische Siedler einen Brandsatz in das Haus einer palästinensischen Familie. Ein achtzehn Monate altes Kleinkind verbrannte in dem Haus bei lebendigem Leib, der Vater, die Mutter und ein vierjähriger Junge wurden mit schwersten Verbrennungen in Krankenhäuser gebracht und der Vater erlag dann seinen Verbrennungen einige Tage später. Die Mutter und das Kind liegen immer noch in sehr kritischem Zustand auf der Intensivstation.
Dieser grausame Vorfall und dazu noch die momentan äußerst kritische Verfassung eines palästinensischen Häftlings nach 60 Tagen Hungerstreik lässt die gesamte Situation hier wieder angespannter und kritischer werden. Gerade in den letzten Tagen gab es einige Messerattacken an Checkpoints gegen israelische Polizisten bzw. Soldaten – weitere Verletzte und Tote waren und sind die Folge.
Und dann gibt es zeitgleich diese ganz anderen Erlebnisse:
Ein schöne Kunstaktion abends im Israel Museum,
eine so fröhlich wirkende Straße mit ungewöhnlichen Schattenspendern,
und eine unglaubliche Nacht in der Wüste Negev. Wir sind an dem Abend, als der Meteorschauer der Perseiden am stärksten war, in die Wüste gefahren zum angeblichen dunkelsten Punkt Israels. Mit uns hatten diese Idee allerdings auch zahlreiche andere Sternengucker und -fotografen. Aber dies störte überhaupt nicht – wir saßen auf unseren Campingstühlen, ausgerüstet mit Kaffee, Wein und belegten Broten circa drei Stunden unter freiem Himmel und konnten einen dermaßen intensiven Sternenhimmel bestaunen, wie ich es noch nie vorher erlebt habe. Mindestens 80 Sternschnuppen habe ich gesehen – irgendwann habe ich aufgehört zu zählen und nur noch gestaunt……Carsten hat zahlreiche Fotos geschossen und zwei meiner Lieblingsfotos seht ihr hier:
Auf den Tischen standen Karaffen mit Wasser und Limonade und es wurde starker Kaffee in kleinen Pappbechern gereicht. Alle Anwesenden warteten gespannt bis um circa 19.30 das Brautpaar den Raum betrat. In der Mitte des Raums steckten sie sich die Ringe an die Hände; laute arabische Discomusik setzte ein und dann wurde getanzt bis kurz nach 21 Uhr – ohne Pause!! Dann gab es für alle ein Stück Kuchen und dann: Ende der Veranstaltung – auch dies wieder eine völlig neue Erfahrung für uns 🙂
Und nun zum Abschluss für heute möchte ich Euch gerne auf einen Artikel aufmerksam machen, den ich sehr interessant fand weil er einen ganz individuellen und doch so spezifischen Blick zweier junger Studentinnen auf diese Situation hier wirft – vielleicht mögt ihr ihn ja auch lesen:
http://www.zeit.de/campus/2015/04/jerusalem-studium-universitaet-nah-ost-konflikt
Bis zum nächsten Mal, ich sage Slalom, Marhaba und Tschö, alles Liebe für Euch, Heike
Liebe Heike,
wie jedes Mal lese ich Deine Berichte mit großem Interesse und finde sie sehr spannend.
Und ebenso bin ich jedes Mal wieder geschockt, was aus einer zivilisierten Gesellschaft werden kann und welche Abgründe sich auftun. Ich schätze mich glücklich, nicht in solchen Verhältnissen leben zu müssen, auch wenn wir zur Zeit nicht sicher sein können, dass dies so bleibt.
Lieben Gruß vom Holger
Hallo lieber Holger, ganz lieben Dank und liebste Grüße !
Ich kann sehr gut verstehen, was du meinst und dennoch bin ich im Moment immer noch, ohne pathetisch werden zu wollen, sehr froh und glücklich, dass Carsten und ich diese so vielfältigen Erfahrungen hier machen können – natürlich sehr wohl wissend, dass wir ja nur für eine begrenzte Zeit hier sein werden.
Apropos : wann kommt ihr eigentlich?;), gib Thea einen Kuss von mir!
Zurück aus Namibia und schon wieder in eine ganz andere Welt eingetaucht. Danke für deine Berichte und ich fühle mich schon ein bißchen vorbereitet für unseren Besuch nächstes Jahr. Grüße, Lothar
Gerne! Und wir freuen uns schon sehr auf euren Besuch, liebste Grüße, Heike und Carsten
Super! Hab schon auf einen neuen Beitrag gewartet!liebste grüsse aus der heimat!